Die bedürfnisorientierte Erziehung, Aware Parenting, bindungsorientierte Erziehung ist in aller Munde. Heute möchte ich mit dir auf das große Dilemma dieser achtsamen Erziehungsstile eingehen. Warum begleiten wir unsere Kinder auf diese Weise und warum ist es manchmal so schwer, das umzusetzen, wenn es doch so „richtig“ erscheint?
Was ist eigentlich Bedürfnisorientierung?
Vielleicht fragst du dich: Was bedeutet bedürfnisorientiert eigentlich genau? Für mich bedeutet es, mein Kind nicht mehr wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu betrachten, das geformt werden muss. Stattdessen sehe ich es als eigenständigen Menschen mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Wenn wir uns in die Perspektive unserer Kinder hineinversetzen, verstehen wir, dass sie genauso Bedürfnisse haben wie wir. Dabei geht es darum, alle Bedürfnisse als gleichwertig zu betrachten und dem Kind das Gefühl zu geben: „Ich sehe dich, ich höre dich, und ich liebe dich bedingungslos.“
Der größte Fehler bei der bedürfnisorientierten Begleitung
Wird ein kleiner neuer Erdenbürger geboren, dreht sich natürlich erst einmal fast alles um seine Bedürfnisse. Das ist normal. Aber: Ganz oft verlieren dabei die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse aus den Augen, denn sie wollen es richtig und besonders gut machen. Und dies, wenn das Kind schon längst aus dem Gröbsten rausgewachsen ist und auch einmal die Bedürfnisse der Eltern mehr zählen könnten als die des Kindes.
WICHTIG: Bedürfnisorientiert bedeutet, dass alle Bedürfnisse der Familie wichtig sind und wir immer schauen dürfen, wie diese Bedürfnisse möglichst erfüllt werden können. Auch wir Eltern haben Bedürfnisse, die manchmal Vorrang haben dürfen. Denn – bitte vergiss nicht: Nur wenn unser Tank gefüllt ist, können wir an andere ausschenken!
Höre/Schau gerne in die Folge Die zwei größten Missverständnisse der bedürfnisorientierten Erziehung rein!
Ein Blick in die Vergangenheit
Um das Dilemma zu verstehen, nehmen wir uns einen Moment, um zurückzublicken. Erinnere dich an die Geschichten unserer Großeltern, die eine Zeit kannten, in der Disziplin und Gehorsam das tägliche Brot waren. Die schwarze Pädagogik und die Methoden der NS-Zeit prägten Generationen. Autonomie und Eigenständigkeit hatten wenig Raum. Es wurde von Kindern erwartet, dass sie schweigen und gehorchen. Alles drehte sich darum, starke und gehorsame Mitglieder der Gesellschaft zu formen.
In der Podcastfolge gehe ich auf ganz konkrete Beispiele der schwarzen Pädagogik und auf das Buch Johanna Haarer – „Die deutsche Mutter“, ein, die schockierend sind zu hören.
Die Sehnsucht nach Veränderung
Jetzt aber zu uns – warum streben wir nach dieser Veränderung? Es ist der Schmerz, den viele von uns in unserer eigenen Kindheit erlebten. Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit zurück, als ich bei meiner durch und durch adeligen Tante war: Während ich als Mädchen selbstverständlich in der Küche helfen musste, durften die Männer und Cousins gemütlich im Wohnzimmer sitzen. Ich weiss noch ganz genau, wie wütend mich diese Situation gemacht hat, wie unfair sich das angefühlt hat.
Genau solche Situationen bringen den tiefen Wunsch nach einer Veränderung. Und oft resultiert daraus eine trotzige Haltung: Mein Mann soll bitte genauso viel tun wie ich im Haushalt, meine Jungs sollen bitte schön von Anfang an nicht solche Rollenclichés vermittelt bekommen. Dieser Schmerz ist es, der uns antreibt.
Viele Dinge wollen wir „besser“ machen für unsere Kinder, wir wollen, dass sie sich immer gesehen und verstanden fühlen. Wir wollen sie begleiten in ihren starken Gefühlen, wir wollen sie weinen und auch wüten lassen, so wie wir es aus all den Erziehungsratgebern, Podcasts und CO hören. Aber: Wir haben es selber nie gelernt, mit unseren Gefühlen umzugehen.
Und genau dann passiert es, dass wir an unsere alten, längst vergessenen Wunden stoßen. Wenn du selber nie erfahren hast, wie es ist, in deinen Gefühlsstürmen die wichtige Co-Regulation zu erfahren, dann wird es dir schwer fallen, deinem Kind diesen Raum zu halten und ihm Co-Regulation zu schenken. Denn dein autonomes Nervensystem schaltet aus der Erinnerung heraus in einen Hab-Acht-Modus.
Sprich, im Kopf weißt du, wie es geht, aber dein Unterbewusstsein, welches direkt mit dem autonomen Nervensystem kommuniziert, gibt dir ganze andere Signale.
Die Herausforderung im Alltag
Hier beginnt der manchmal frustrierende Alltag. In der Theorie klingt alles simpel, nicht wahr?
Doch dann kommen Momente, die uns herausfordern. Vielleicht kennst du das Gefühl, wenn du dich bemühst, deinem Kind empathisch und ganz à la Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg zuzuhören und zu akzeptieren, aber dich dann daran erinnert fühlst, dass dir damals nicht zugehört wurde und deine Gefühle keinen Raum hatten. Du durftest das in deiner Kindheit nicht, stattdessen folgten Strafen.
Dazu kommen dann manchmal widersprüchliche Gedanken.
Wie oft hatte ich bereits diese Diskussion mit meinem Mann und auch anderen Familienangehörigen und auch Lehrern: Kinder müssen doch die Erwachsenen respektieren! Wir sind doch diejenigen, die das Sagen haben!
Wenn mein Kind schreit und wütend ist, soll ich es dann wirklich das alles ausdrücken lassen, auch wenn es mich beispielsweise böse beschimpft? Bis wohin darf es gehen? Ist Kackmama noch ok, aber Scheißmama nicht mehr?
Dürfen wir als Eltern es noch tolerieren, in der Schule aber auf keinen Fall? Welche Schimpfworte lassen wir durchgehen, welche nicht?
Es ist alles neu für uns. Ich beobachte mich immer wieder dabei, wie ich hadere, wie ich neu abwäge, wie ich mich verhalten könnte. Sehr oft fühle ich mich dabei sehr instabil und unsicher. Wie geht es denn nun richtig?
Ich möchte die Gefühle meines Kindes achten, aber ein bisschen Impuls-Kontrolle sollte es schon haben, oder?
Mit 10 Jahren müsste er doch jetzt eigentlich schon dies und jenes können. Die anderen Kinder schaffen das doch auch. Früher hätte da auch niemand nach geschrien und so weiter und so fort…
Uns fehlen Vorbilder!
Wie gerne beobachte ich andere Eltern mit ihren Kinder und leite dann daraus meine Schlüsse ab. Genau so möchte ich es beim nächsten Mal versuchen! Oder auch: Nee, so geht das ja gar nicht!
Der Umgang mit Unvollkommenheit
Vielleicht denkst du jetzt: „Aber wie löse ich dieses Dilemma?“ Die Wahrheit ist, es gibt keine perfekte Lösung. Wir lernen alle mit jedem Schritt, den wir gehen. Ich selbst habe viele Zwiebelschichten in Coachings und Therapiesitzungen abgelegt.
Es ist okay, Fehler zu machen, es ist okay, nicht immer alles richtig zu machen. Wichtig ist, dass wir versuchen, dass wir offen und bereit sind, aus unseren Fehlern zu lernen.
Die wichtigste Zutaten sind Beobachtung, Geduld und Flexibilität.
Beobachte dich bei den alltäglichen Handlungen, höre dir selber zu, wenn du sprichst und erkenne dadurch, was du beim nächsten Mal anders machen könntest.
Sei geduldig mit dir, wenn es auch nach dem fünften Male immer noch nicht klappen sollte und du wieder und wieder deinen Triggern verfällst und mit deinem Kind zusammen wütend wirst, anstatt ihm die wichtige Co-Regulation zu bieten.
Sei flexibel, habe den Mut zum Revidieren, zum Verändern, zum Anpassen.
Manche Dinge tue ich jetzt komplett anders als noch vor einigen Jahren. Ich habe auch mittlerweile verstanden, dass jeder meiner Söhne etwas anderes braucht, in der Ansprache, in Abmachungen und auch Regeln.
Der Mut der „Cycle-Breaker“
Vielleicht bist du die Erste in deiner Familie, die einen Zyklus durchbricht, die es anders macht, die reflektiert und heilt.
Und genau da liegt eine unglaubliche Kraft, von der wir manchmal gar nicht wissen, dass wir sie in uns tragen. Deine Kinder werden diesen Funken aufnehmen, sie werden es auf ihre Art und Weise wieder anders machen, so wie unsere Eltern den Weg für uns bereitet haben. Es ist oft eine Generation, die den großen Sprung macht und viel Heilung in das transgenerationale Trauma bringt.
Wenn du diese Person bist (wovon ich ausgehe, wenn du das hier liest), dann hab Mitgefühl für dich!
Du bereitest einen guten Weg für die Generationen nach dir.
Und wenn du das Gefühl hast, zum schwarzen Schaf zu werden in deiner Familie, weil du neue Wege gehen möchtest, dann höre gerne in die Folge rein: Wie du als Cyclebreaker das zerbrechende Familiensystem transformierst
Gemeinsam auf diesem Weg
Diese Reise ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Ein Marathon, den wir nicht allein laufen müssen. Jeglicher Fortschritt, sei er auch noch so klein, ist ein Grund zum Feiern.
Ein besonderer Moment in meiner Familie war, als mein Sohn mir nach einem Konflikt mit einem Familienmitglied sagte: „Mama, ich darf doch sagen, wenn ich traurig bin, oder?“ Das hat mich so glücklich gemacht zu hören. Solche Momente zeigen, dass Veränderung möglich ist und Generationen sich zum Positiven verändern. Das ist der Beweis, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Also nimm die kleinen Erfolge mit einem Lächeln auf, feiere jeden Fortschritt und sei geduldig mit dir selbst. Du machst einen großartigen Job.
Und wenn du Unterstützung brauchst, um diesen Weg nicht alleine zu gehen, melde dich gerne bei mir für ein kostenloses Klarheitsgespräch!
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